16./17. Tag - Capitán Lafitte und Rückflug -
Blattschneider-Ameisen (Atta cephalotes)



Rückflug
Warum sitzen Single-Reisende im Flieger eigentlich immer auf den Sesseln in der Mitte und warum die Paare immer Bücher lesend an den Doppelplätzen der Fensterreihen? Ich würde gerne auf die diffuse graue Fläche des Atlantiks schauen, auf die Wattebausche der Kumuluswolken und auf die Wolkenmasse des Tiefdruckgebietes, das stundenlang tief unter uns durchwandert. Ich bin aber alleine unterwegs und döse folgerichtig auf meinem Mittelplatz recht emotionslos vor mich hin. Träume von diesem und jenem und bleibe letztlich bei den Blattschneiderameisen hängen.

Blattschneider-Ameisen (Atta cephalotes)
Eigentlich waren die Krabbler bei unseren Wanderungen immer und überall präsent mit ihren Blattstückchen, die schwankend und ruckelnd scheinbar in den Kolonnen mitmarschierten. Mal sah man die Dauerarbeiter als schmales Band hin und her hastender Tiere auf Zweigen oder Bretterkanten, [01] mal als graubraunes Gewusel auf ihren bis zu sieben Zentimetern breiten Straßen, die sie mit einem außerordentlich wirksamen Pestizid von jeder Vegetation völlig frei halten. Zum alten Adel der Evolution gehören sie allemal. Ihre Altvorderen hätten dem letzten Dino wohl gerade noch Pfötchen geben können, bevor er ausstarb.

In den Nestern der Blattschneider-Ameisen leben verschiedene Kasten, die sich in der Körpergröße deutlich von einander unterscheiden. Eine dieser Kasten, die etwa 15 mm langen Soldaten, [02] dienten mit ihren besonders kräftigen Mandibeln den alten Medizinmännern bei der Versorgung klaffender Hautverletzungen. Sie hielten dabei eine dieser Ameisen so über die Wunde, dass deren Ränder von den zubeißenden Zangen zusammengedrückt wurden und knipsten dann mit dem Daumennagel den Körper ab. Die verkrampften Mandibeln des abgetrennte Kopfes lösten sich erst wieder nach mehreren Tagen.

Beliebt sind die Ameisen aber nicht. Vor allem auf den tropischen Plantagen mit ihren anfälligen Monokulturen sind sie verhasst und gefürchtet. Ihr Bedarf an Blättern ist aber auch enorm. Man sagt ein großes Nest verbraucht so viel Grünzeug, dass eine ausgewachsene Kuh davon satt würde. Ein schön belaubter Zitrusbaum steht bei Sonnenaufgang plötzlich oben ohne da - Kein Problem für die emsigen Tierchen. [03] In den landwirtschaftlichen Kulturen werden sie mit allen Mitteln gnadenlos bekämpft. Große Plantagen beschäftigen sogar geschulte Spezialisten, die mit Chemikalien versuchen die Plage einzudämmen.

Nicht Jeder sieht das so negativ, einige Reptilien und Vögel lieben die Ameisen sogar sehr. Sie stehen an deren Straßen und schlagen sich mit dem vorbeieilenden Krabbelzeug die Bäuche voll. Auch die kleinen "Juniorhaufen" [04] neugegründeter Nestanlagen sind noch eine willkommene Gelegenheit für hungrige Ameisenbären oder Gürteltiere. Die graben die Ameisen einfach aus und fressen sie samt Nachwuchs und Königin. Später werden die Baue unangreifbar. Die meterhohen Hügel großer, alter Nestanlagen bedecken oft 20m² Fläche und mehr. [05] Ihre Gängen und Kammern führen bis zu fünf Meter in dieTiefe. Solche Burgen knackt selbst der stärkste Ameisenbär nicht mehr.

Manche Pflanzen wissen sich wirkungsvoll zu wehren gegen die Attacken der Blattschneider. Sie bieten winzig kleinen Ameisen der Gattung Azteca, Verwandten der berühmten Feuerameisen, in speziellen Hohlräumen Quartier [06] und Nahrung durch Blattanhängsel und süße Ausscheidungen. [07] Als Gegenleistung verteidigen die kleinen Giftbomben ihren Gastgeber bedingungslos. Eine andere Aztecaart überbaut die Zweige ihrer Gastgehölze mit Gängen aus einer Art Pappmaché, mit vielen kleinen Löchern. Im Schutz dieser Tunnel lauern sie auf ihre Chance. Tritt eine Blattschneiderameise in eine dieser Öffnungen, verbeißen sich die kleinen Teufel mit ihren Kieferklauen an dem Fuß zu einem Klumpen, sodass die Ameise den Fuß nicht mehr aus der engen Öffnung ziehen kann. Die Große draußen will sich frei strampeln, tappt dabei aber mit anderen Beinen ebenfalls in Löcher und hat augenblicklich auch daran ein sperriges Knäuel von Angreifern hängen, die sie kneifend und zerrend immer weiter fixieren. Die kleinen Biester unten in ihrem Schutzraum halten zuletzt die Blattschneiderin gut fest, während ein anderer Trupp nach außen stürmt und das für sie riesenhafte Tier umbringt, ohne dabei selber groß was zu riskieren.

Auf ihrem Wege zurück zum Nest halten die Blattschneider-Ameisen die abgebissenen Blattstücke mit ihren Kiefern wie Segel über den Köpfen. Dabei schleppen sie Lasten bis zum zehnfachen des eigenen Gewichtes. Häufig tragen sie auch noch ein oder zwei kleine Arbeiterinnen, die auf den Blättern sitzend zu einem bequemen Heimweg kommen. Doch der Augenschein trügt. Die kleinen Ameisen fungieren als regelrechte Luftabwehr. [08] Die starken Ernteameisen könnten sich mit ihren scharfen Kieferklauen trefflich selber verteidigen. Solange sie damit aber die Blätter tragen, sind sie gegen Angriffe von Fluginsekten so gut wie wehrlos. Die Kleinen Bodyguards warnen und verteidigen ihre Trägerin vor allem bei Attacken der Scharfrichterfliege. Diese Buckelfliege (Apocephalus pergandei) versucht ein Ei am Kopf der Ameise abzulegen. Die geschlüpfte Made entwickelt sich dann schmarotzend im Kopf und trennt ihn zuletzt von Rumpf, um im Schutze der relativ großen, stabilen Chitinhülle ihre Puppenruhe und die Entwicklung zum fertigen Insekt abzuschließen.

Und da ist auch noch das Rätsel um die weggeworfenen Blättern. Es sind hunderte und sie liegen am Straßenrand auf einer sandigen Fläche verstreut, lauter kleine, saftig grüne Blättchen. Trotz ihrer polymorphen Formen schauen alle irgendwie gleich aus. [09] Da hat eine ganze Marschkolonne von Blattschneider-Ameisen innerhalb eines Quadratmeters alle mitgeführten Blattstücke mehr oder minder auf einen Haufen geworfen und ist dann spurlos verschwunden. Ich konnte in der näheren Umgebung keine einzige mehr finden. Blattschneider-Ameisen ziehen schon seit 50 Millionen Jahren ihre Straßen durch die Vegetation, die beherrschen ihr Handwerk. Was hat sie nur zu einem so unökonomisch scheinenden Verhalten gedrängt? War es der Platzregen gestern Abend, ein Angriff von Fressfeinden, oder irritierte sie vielleicht der Geruch einiger Tropfen verlorenen Treibstoffes? Steuern die Insekten doch ihr Zusammenleben in vielen Bereichen mit Duftstoffen und Pheromonen.

Eine spezialisierte Kaste, die körperlich großen Sammlerinnen, zerschneiden mit ihren kräftigen Mandibeln die Blätter von Stauden, Büschen und Bäumen in münzgroße, winkelige Stücke und schleppen diese dann in den unterirdischen Bau. Dort zerkauen die etwas kleineren Arbeiterinnen alles zu winzigen Schnipsel und legen damit regelrechte Pilzfarmen an. Das Geflecht der mikroskopisch feinen Pilzhyphen über- und durchwuchert die aufbereitete Pflanzenmasse wie Schimmel altes Brot. Die aus den Oberflächen wuchernden Pilzfäden beißen die Ameisen sorgfältig zurück und veranlassen so das Myzel statt Fruchtkörper knollige Verdickungen auszubilden, von denen sich der ganze Staat ernährt. Selbst der Nachwuchs wird ausschließlich mit diesen eiweißreichen „Ambrosia-Körperchen“ gefüttert. Um möglichst große, die Produktion steigernde Oberflächen zu bekommen, ist das eingebaute Blattsubstrat von Gängen und Kammern stark durchzogen. Das Ganze sieht einem groben Badeschwamm nicht unähnlich.

Von unseren Champignonfarmen wisse wir, dass sich Pilzsubstrat schnell erschöpft, es kann auch nicht regeneriert werden und man muss es nach einigen Erntewellen austauschen. Trotz ihrer Erfahrung als Pilzzüchter über Dutzende von Jahrmillionen hinweg, können sich auch die Ameisen bis heute diesen Zwängen nicht entziehen. Sie erstellen deshalb unentwegt neue Pilzgärten. Abgeerntete Kammern werden aufgegeben und nur noch zur Entsorgung von Abfällen und toten Artgenossen genutzt.

Ein anderes Problem, das ihre humanoiden Kollegen zur rechten Zeit beutelt, haben sie dagegen souverän bereinigt. Trotz penibelster Hygiene und Sauberkeit verursachen vor allem Fremdpilze, aber auch Vieren, Bakterien und Insekten immer wieder Ernteeinbußen auch in modernen Pilzfarmen. Da bei deren Produktion jeder Einsatz chemischer Mittel in der Vegetationsphase verboten ist, desinfiziert sie für neue Chargen die Kulturgefäße sorgfältigst und beimpft, um Schmierinfektionen vorzubeugen, den frischen Kompost mit Pilzfäden (meist in Form von Körnerbrut), die unter klinisch sterilen Bedingungen aus Stammkulturen immer wieder neu gewonnen werden. Die Blattschneider müssen ihre neuen Kammern aber mit Pilzfragmenten aus bestehenden Kulturen beimpfen. Selbst bei der Neugründung von Staaten nehmen junge Königinnen [10] nur einige Mycelfäden aus dem alten Bau mit, als Keimzelle für ihre eigenen Gärten.

Nach unseren Erfahrungen mit Pilzzucht müsste eine solche Kulturführung unweigerlich nach wenigen Dekaden kollabieren. Die aufbereiteten Nährböden bieten sehr vielen Pilzen optimale Bedingungen und deren Sporen sind allgegenwärtig. Sie befallen die Substrate, und ihre Hyphen durchwachsen Areale, die der Kulturpilz noch nicht erreichen konnte. Manche Schadpilze sind stark genug, den Nutzpilz selbst in den Bereichen zu bedrängen, die er bereits besetzt hat. Die Erträge verringern sich, und die Chance aus altem Substrat sortenreine Impfstücke für neue Kulturen zu gewinnen tendieren rasch gegen Null.

Die Blattschneider-Ameisen kennen diese Probleme nicht. Ihr Pilz ist nach wie vor absolut sortenrein, so wie er es schon immer war. Allerdings nutzen sie ein in Teilen unserer öffentlichen Wahrnehmung als verantwortungslos verteufeltes Verfahren: Sie setzten genmanipulierte Bakterien in der Biosphäre frei.

Pflege und Unterhalt der Pilzgärten sind ausschließlich Aufgaben der körperlich kleinsten Kaste des Nestes. Ein dichtes Gewusel von Tieren bekämpft und beseitigt „von Hand“ permanent alle Eindringlinge die dem Pilz schaden könnten. Ihre stärkste Waffe jedoch ist eine Substanz die sie biotechnologisch herstellen. Dabei ist „biotechnologisch“ im Sinne modernster Gentechnologie zu interpretieren: An bestimmten Körperstellen der Ameisen leben Bakterienkolonien (z.B. Pseudonocardia oder Streptomyces), die sich ausschließlich von einem Sekret ernähren, das die Insekten in speziellen Drüsen für sie produzieren. Im Gegenzug liefern die Bakterien mit ihrem Stoffwechsel äußerst effektive Antibiotika. Die Mittel wirken gegen Vieren und andere Mikroben, auch vernichten die Blattschneider damit auf ihren Laufstraßen im Gelände den Gras- und Kräuterbewuchs. Im Nest schwächen und dezimieren sie vor allem aber sämtliche Pilzhyphen, mit einer einzigen Ausnahme: Leucoagaricus gangylophorus, der Kulturpilz der Ameisen, bleibt ungeschoren, der wird sogar besonders begünstigt und zu üppigem Wachstum angeregt. Die Fakten deuten meines Erachtens sehr stark auf einen Stoff der tatsächlich das alles leisten kann. Pilze produzieren mit ihren Mycelien ein hochwirksames Fungizid, mit dem sie auch in freier Natur artfremde Konkurrenten im Substrat auf Distanz halten können. Im Schnitt mancher von Pilzen befallener Baumstämme kann man diese „Kampfzonen“ als unregelmäßige, meist dunkle Linien deutlich erkennen [11]. Mit dem Interfertilitätstest nützen Mykologen an Laborkulturen diesen markanten Effekt, um die Eigenständigkeit einer Art bei sich ähnelnden Pilzen zu klären.

Mein hypothetischer Lösungsansatz: Irgendwann in grauer Vorzeit fand ein spontaner Gentransfer statt. Die passenden DNA-Sequenzen des Pilzes gelangten dabei in das Erbgut der Bakterien, die daraufhin begannen das Pilzenzym zu synthetisieren. In der Folge erhöhten diese manipulierten Bakterien den Hemmstoff im Pilzsubstrat der Blattschneider weit über das Niveau das die Pilze alleine leisten könnten. Auch Substratteile die der Nutzpilz noch nicht durchwachsen (und damit schützen) konnte, sind durch die Präsenz der Ameisen mit den anhaftenden Bakterien allen anderen Pilzen verschlossen. Diese Abwehr ist absolut. In all den Jahrmillionen ist es keinem Schmarotzer gelungen in diese Festung nachhaltig einzubrechen. Selbst dem Schlauchpilz Escovopsis gelang es nicht gegen die Hemmstoffe Resistenzen zu bilden, obwohl er fast von Anfang an die Kulturen in den Ameisennestern bedrängt, wie der amerikanische Biologe Cameron R. Currie mit DNS-Analysen nachweisen konnte.

Die Blattschneider-Ameisen, die Pilze, die Bakterien - da fanden sich drei zu einer Symbiose, die auf Gedeih und Verderben aufeinander angewiesen sind. Jeder für sich alleine? Es könnte keiner überleben. Gemeinsam schafften sie das aber durch die Fährnisse einer halben Ewigkeit. Der Pilz machte dabei den ganz großen Wurf. Er wurde von Anfang an nur vegetativ vermehrt, es kam also nie zu einer genetischen Veränderung durch die Ausbildung von Fruchtkörpern und Sporen. Die weißen Fäden, die die Ameisen heute in ihre neuen Nährböden pflanzen - es ist das gleiche Individium, das sie vor all der unvorstellbaren Zeit zum ersten mal in einen ihrer Baue pflanzten. Keine Tochter, kein Enkel oder wie man einen Abkömmling nach solcher Zeit nenne wollte. Dieser Pilz, ein vielzelliges, normalsterbliches Lebewesen, er könnte heute (o.k. ein paar Millionen Jahre hin oder her) Geburtstag feiern, mit 50 000 000 Kerzen auf der Torte.

Mein Gott was für eine Zeit... Dutzende von Jahrmillionen leben - immer in optimaler Fitness - Unsterblichkeitsfantasien - Träume eines Singletouristen auf einem Mittelplatz in einem Flieger, hoch über dem Atlantik.


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