9. Tag - Fahrt von Riobamba über Baños
zur Isla Amazonica Lodge



Die großen Vulkane Ecuadors, es sind schon gewaltige Berge. Mit 6.310 Meter überragt der Cimborazo völlig freistehend seine Umgebung um mehr als 3.000 Höhenmetern. Ein leichter Dunst verstärkt das Leuchten der Gletscher und Neuschneeflächen. Der Carihuayrazo, mit seinen 5.020 Metern auch kein Kleiner - hier nur Staffage am Rande. Später der vollkommene Kegel des Antisana mit der gezackten Gipfellinie, seiner "Krone". Und dann der ausbrechende Tungurahua.

Draußen zieht eine weiträumige Mittelgebirgslandschaft vorbei, mit Dörfern und dem Flickenteppich der Weiden und Felder. Wir kommen immer näher an den Dampf und Asche speienden Tungurahua. Die Straße ist erst seit wenigen Tagen wieder offen. Ausgelöst vom Wasser der abschmelzenden Gletscherhaube hatte sie eine Mure metertief verschüttet. Kurz vor Baños auf der Brücke über den Rio Pastaza: Eingerahmt von den Schluchtwänden des Flusses, der qualmende Berg. Die Dampfsäule mehr als 1.000 m hoch - unendlich fern und doch hautnah. Wenn der jetzt ausbricht und einen seiner gigantischen Lahares entläßt, können wir unsere Auferstehung zum Jüngsten Gericht vergessen. Uns fände weder Tod noch Teufel. Die Apokalypse ereilte uns in 5 bis 10 Minuten. Das ist auch die Zeit die den Menschen in Baños bliebe höher gelegene Gebiete zu erreichen. In den Straßen weisen Pfeile die schnellsten Fluchtwege. Im Ort herrscht Alarmstufe orange. Es gibt nach oben nur noch die Stufe rot: Er bricht aus, nutzt eure paar Minuten. Das scheint aber niemanden zu stören. Alles ist voller Menschen, das Thermalbad quillt förmlich über. Das Städtchen steht auf der verfestigten Oberfläche einer alten Schlammlawine.

Baños lebt weitgehend vom Tourismus. Der ursprüngliche Haupterwerb der Bewohner, die Herstellung süßer Leckereien aus Zuckerrohr, trägt heute mehr folkloristische Züge. In der Calle Amabato schlagen und ziehen die Melcoche-Hersteller schwungvoll ihre vom Eindicken noch warmen Karamellstränge, damit sie die rechte Konsistenz für den Verkauf bekommen. Am zentralen Platz steht eine lange Reihe völlig gleichartiger Verkaufsstände. Alle sind ganz genau gleich gebaut, produzieren und verkaufen die gleichen Zuckerrohrprodukte. Die Präsentation der wenigen Artikel ist nahezu identisch. Dieses Phänomen trifft man im Lande öfter. Man findet Dörfer, da gibt es nur Flechtarbeiten, die Bewohner anderer Siedlungen können weben oder töpfern, andernorts fertigten alle Jeans, Lederwaren oder Schmuck. Jeder kopierte die Arbeit der anderen exakt. Einer hat eine erfolgreiche Idee und nach und nach kopiert das ganze Dorf dessen Handeln bis ins letzte Detail, ohne etwas zu verbessern oder weiter zu entwickeln. Die Menschen haben Probleme mit komplexem oder konstruktiv- phantasievollem Denken. Die können das nicht besser - ist halt so - hat man uns gesagt. Na ja... bei uns zu Hause sind die Plagiatoren aber auch keine seltene Spezis. Die Maislabyrinthe fallen mir da ein, oder die kleinen Felder mit Gladiolen und Sonnenblumen zum Selberschneiden, mit der obligaten Kasse samt Preistafel an einem 10-cm-Rohr, das in einer betongefüllten Tonne steckt. Das sieht überall völlig gleich aus, das gleiche Produkt, die gleiche Präsentation. Einer hatte mal eine erfolgreiche Idee und nach und nach kopiert das halbe Land dessen Handeln bis ins letzte Detail, ohne etwas zu verbessern usw. usw. usw. siehe oben.

Ich lümmele auf der Brüstung der Hängebrücke über den Rio Pastaza - die tiefe Schlucht, die unübersichtlichen, steilen und tief gegliederten Berge - Jahrhunderte zurück: Geführt von dem Inka Rumiñahui, eine Karawane von 80 Männern - beladen mit Gold, dem Lösegeld für die Freiheit Atahualpas. In diesen Bergen erreicht den Troß die Nachricht von der Ermordung des Inka. Die wertvolle Last wird versteckt - hier irgendwo - sie ist bis heute verschollen. Es soll Dokumente geben die den Weg zum Schatz beschreiben. Ob die aber echt sind - wohl eher nicht. Die Inka hatten ja keine Schrift in unserem Sinne, nur ihre Knotenschnüre. So eine Schatzkarte, echt oder gut gemacht, es gab Zeiten da brachte so etwas viel Geld. Der Schatz selber - er wird wohl nicht mehr da sein. Ein derart ungeheures Vermögen und dann die 80 Träger mit ihrer Begleitung - viel zu viele Mitwisser. Andererseits das viel Gold, wenn es irgendwo aufgetaucht wäre, es hätte Spuren hinterlassen.

Seit Stunden eine endlose Fahrt über Schotterstraßen. Jetzt stockdunkle Nacht. Ab und an kommen Lichter entgegen und wir müssen über den Rand der Straße hinaus ausweichen – hoffentlich landen wir nicht doch noch im Straßengraben. Vor Stunden, gleich hinter Baños, die Fahrt durch die extrem steile Schlucht des Rio Pastaza, das war schon eine Herausforderung für sicherheitsverwöhnte, mitteleuropäische Gemüter. Ein breiter Baulaster kam uns entgegen - rangieren, Millimeterarbeit - unser Bus fuhr immer weiter an den unbefestigten Straßenrand. Vom Fenster nach unten behinderte zuletzt definitiv nichts mehr den freien Blick auf den schäumenden Fluss in ca. 200 Meter Tiefe. Mittag in Rio Verde - eine Wanderung hinab in die Schlucht zur Mündung des gleichnamigen Flusses, der in einem dramatischen Fall zwischen haushohen Blöcken und Wänden in den Rio Pastaza stürzt. Bei Puya das „Fatima-Projekt“ besucht - es gelang hier den Konzessionären der lokalen Erdölförderung, über mehrere Hektar ein Regenwaldareal naturnah wieder aufzubauen - eine wissenschaftliche und logistische Meisterleistung. Im Lichte des titanischen Arbeitseinsatzes und der enormen Finanzmittel die der Schell-Konzern für dieses prestigeträchtige Projekt aufwenden musste, erscheint der imposante Park aber auch als Fanal menschlicher Hilflosigkeit, angesichts der Hypothek die die brandrodenden Wanderackerbauern hier hinterlassen haben: Es ist der annähernd 100 Kilometer breiter Streifen verwüstetes, unfruchtbares Land, den wir bis zur einbrechenden Nacht durchfuhren. Das stark kupierte und von temporären Wasserläufen zerfressene Gelände überzieht fast lückenlos ein grüner Filz. Zwischen verstreuten Buschgruppen und wenigen, isoliert stehenden Bäumen dominiert hartes, schilfiges Gras.

Unvermittelt biegt der Bus scharf links ab, und wir verschwinden in der Vegetationsmauer die die Straße seit geraumer Zeit begleitet. Alles aussteigen. Der Motor wird abgestellt. Ein völlig überraschender Empfang, der Chor der Frösche: Wie ein Vogelkonzert im Frühling - nur keine Melodien, keine Klangfolgen - eine Kakophonie aus Pfeifen, Schnalzen, Knacken, Schrillen, Rattern und dazwischen ganz deutlich das synthetische Fiepen eines Weckers. Ein unglaubliches Konzert.


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