10. Tag - An der Isla Amazonica Lodge



Der Morgen begrüßt uns mit einem gewaltigen Regen. Die Wege, der Waldboden, die Freiflächen um die Lodge, alles steht mehrere Zentimeter unter Wasser. Nur in Shirt und Hose stapfe ich draußen herum, es ist phantastisch, unglaublich was da herunterfällt. Die Kröte würgt man uns zum Frühstück in den Hals. Eines der Highlights der Reise fällt aus. Nix stundenlanger Marsch durch Primärwald - nix jahrzehntausende alte Pflanzengesellschaften - nix Kanu auf dem wundervollen Fluss - der Rio Napo führt Hochwasser. Muß zugeben, die Wanne ist voll, und so ein Kanu ist ziemlich schmal, und ein halbes Dutzend schwimmender älterer Herrschaften mit Fernglas und Jeans in der starken Strömung ist ziemlich blöd. Andererseits ein derart zentraler Punkt der Reise sollte verlässlicher abgesichert sein. Manchmal kommt es halt vor, daß es regnet - im Regenwald. Bin stinksauer, lass’ mir aber nichts anmerken. *Machmahaltdasbestedraus*. (ok. ok. weiß selber, dass ich unfair bin. Das hier ist schließlich eine Lifeveranstaltung in der Wildnis, und manchmal kommt es halt wirklich vor, dass es etwas heftig regnet, im Regenwald... bin trotzdem sauer!)

Alle in Gummistiefel und bis zu den Knöcheln im Wasser. Eine wissenschaftlich begleitete Station für Wiederaufforstung: Man zeigt uns mit erkennbarem Stolz geglückte Versuche aus Samen Keimlinge von Urwaldbäumen zu ziehen. Da stehen sie also die Hoffnungsträger, im Platzregen: Gruppen von einigen Dutzend substratgefüllter Plastikbeutel mit kleinen Pflänzchen. Alibiveranstaltung? Grundlagenforschung? Vielleicht gelingt es eines fernen Tages damit auf den ausgelaugten Böden neue Urwälder oder standortgerechte Nutzwäldern hochzuziehen, um Bevölkerung und Wirtschaft mit Holz und Früchten zu versorgen. Trotz der schönen Erfolge hier und auch anderswo, es sieht alles nach einem sehr, sehr langen und steinigen Weg aus.

Die Holzfäller, die Ausbeutung von Bodenschätzen, sie verursachen unmittelbar schlimmste Schäden. Vor allem öffnen sie aber durch den Straßenbau den Kampesinos den Wald. Die Begehrlichkeit dieser brandrodenden Kleinbauern richtet sich auf die Nährstoffe die in der Vegetation gebunden sind. Stickstoff, Schwefel und der meiste Kohlenstoff verschwinden zwar in Feuer und Rauch. Die verbleibende Asche ermöglicht mit dem verrottenden Wurzelfilz dennoch maximal 2 bis 3 Jahre lang mehrfache Ernten bei abnehmenden Erträgen. Dann sind die Nährstoffe und die sehr dünne Humusschicht verbraucht und ausgeschwemmt. Nur mit Unmengen an Dünger und jenseits aller Wirtschaftlichkeit könnten die im Oriente verbreiteten, unfruchtbaren, roten Lateritböden weiter bewirtschaftet werden. Die starken Niederschläge würden die Nährstoffe weitgehend in die Flüsse und das Grundwasser spülen.

Im intakten Regenwald stecken die Nährstoffe in der Biomasse. Alles Abgestorbene wird in kürzester Zeit zersetzt und wieder von der Vegetation aufgenommen. Ein grobes Blatt zum Beispiel ist nach etwa drei Wochen völlig verschwunden, der Kadaver einer Maus nach wenigen Tagen. Ein Bodenspeicher, wie die nachhaltig fruchtbare Humusschicht der gemäßigten Breiten, konnte sich hier nicht entwickeln. Nicht die Böden, allein das zehntausende von Jahren unverändert günstige Klima ließ diesen phantastischen Wald auf der unfruchtbaren Erde entstehen. Über archaische Zeiträume vermehrte sich die biologische Gesamtmenge immer nur um die geringen Nährstoffmengen die Wind und Wasser eintrugen. Dabei wurde die gesammelte Fruchtbarkeit von Anfang an in der Pflanzen- und Tiermasse gespeichert. Ein flacher, aber sehr dichter Wurzelfilz filtert fast rückstandsfrei alles Verwertbare aus dem durchsickernden Wasser und sichert so den Erhalt des einmal Gewonnenen. Werden diese angesammelten Vorräte von den Flächen entfernt, ist die Vernichtung absolut und von schicksalhafter Unabänderlichkeit.

Ein Indianer führt uns seit etwa zwei Stunden durch einen schönen Sekundärwald. Es regnet nicht mehr. Schwüle Wärme, dämmriges Licht, nur verstreut an kleinen Stellen erreicht die Sonne den Boden. Einige sehr alte Bäume recken ihre mit Lianen und Epiphythen überwucherten Äste in den Himmel. Der Nachwuchs drängt mit dünnen, oft 15 bis 20 Meter hohen, astlosen Spaghettistämmchen seine paar Blätter zwischen die Kronen der Großen. Das sich schließende Blätterdach erstickt den noch vorhandenen Unterwuchs. Kreischende Papageien "bombardieren" uns mit abgerissenen Früchten. Man schätzt 70% aller landgebundenen Arten der Erde leben in solchen Regenwäldern. In Peru zählte man in einer einzigen Baumkrone 43 Ameisenarten. Wir bemerken neben den allgegenwärtigen Blattschneidern eine einsame fast 2 cm große Konga-Ameise. Wenn die zubeißt ist man reif fürs Krankenhaus - erzählen die Anderen. Termitennester kleben wie schwarze, metergroße Wucherungen an den Stämmen. Die ähnlich aussehenden Ameisennester haben nicht die langen, geschlossenen Lauftunnel mit denen sich die lichtempfindlichen Termiten vor dem Tageslicht schützen. Unser Führer erzählt vom Wald und den Nutz- und Heilpflanzen seiner Kultur. Stelzwurzel mit dicht stehenden, kurzen Dornen dienen als Reibeisen. Der rote, harzige Saft eines Baumes, des Sangue del Drago, hilft offenbar gegen jedes Übel. Ihm selber rettete er das Leben nach einem Schlangenbiss. Es blieben nur die Narben im Spann seiner linken Hand. Und jetzt diese seltsame, melancholische Lichtung mitten im Wald: Schmetterlinge gaukeln in der grellen Sonne. Ein abgewohntes, großes Gemeinschaftshaus und verstreute Keramikscherben auf einer kleinen Rodungsinsel mit kümmerlichen Sträuchern: Die verlassene Siedlungsstätte einer Huaoranigruppe.

Aufgereiht an Querstreben des überdachten Hüttenvorplatzes lauter kleine Tonfigürchen, wie von spielenden Kinderhändchen geformt und bemalt. Der Hausherr dahinter - erwartungsfrohes Händlerlächeln. Etwas abseits die Tochter mit der verlegenen Neugierde ihrer 12 Jahre. Die Chefin, klein, selbstbewußt, erklärt die Zubereitung von Maniok: Ein Schnitt mit der Machete öffnet die dicke Schale der Süßkartoffel und der stärkehaltige Kern läßt sich leicht entnehmen. Zum Zerreiben benutzt sie tatsächlich eine der stacheligen Baumwurzeln, die wir heute morgen im Wald sahen. Sie hat auch die Tonfiguren gefertigt, vom Staat sanktioniert und mit ihrer Identnummer versehen. Im Garten unter anderen auch Maniokstauden und einige Toquilla-Palmen (Carludovica palmata) aus deren jungen Blättern die Fasern für Panamahüte gewonnen werden. Einer der Sträucher trägt Früchte die äußerlich unseren Rosskastanien ähneln. Die leuchtend rote Farbe an den Samen in ihrem Inneren wird manchmal auch heute noch zur Körperbemalung verwendet. Schon erstaunlich was man in so kurzer Zeit aus einem Naturvolk machen kann. Vor dreißig Jahren hätten die uns noch zu Schrumpfköpfen verarbeitet. Da lebten sie in ihrer Kultur und Tradition, ihren Bräuchen und in festen Sozialstrukturen. Sie hatten Geschichten und Sagen, Geschichte und eine Vorstellung vom Anfang ihrer Zeit. Kann man nachlesen, auch im Internet. Man sorgt sich. Es soll alles rechtzeitig archiviert und kommentiert sein, bevor es *große Krokodilsträne* im Dunkel der Zeit unwiederbringlich versinkt.

Zum Abendessen Pyranias im Bananenblatt. Die hatten jede Menge kleiner Gräten, schmeckten aber prima. Als Nachtisch zeigt ein Schamane seine Künste: Blätterwedeln, Rauchblasen, Singsang - was soll man sagen, der Mann macht seinen Job - ernst, gewissenhaft. Der weiß was er kann. Wir im Kreise auf unseren Stühlen distanzierte, höfliche Aufmerksamkeit in der Sicherheit abendländischer, controlling-gestählter Urteilsfähigkeit. Schön - aber ist das Getue (man verzeihe mir) eines katholischen Priesters bei einer Bergmesse soviel anders? Rational gesehen zelebrieren beide völlig unsinnige Handlungen die aber ihre Fans massivst beeinflussen können. Immerhin in Lourdes fanden eindeutig belegte Spontanheilungen Todkranker statt. Unterstellt man, daß sich die liebe Gottesmutter nicht selber bemühen konnte, bleibt nur der Schluß, daß Menschen aus sich selber und nur aus sich selber die Möglichkeit haben so etwas zu vollbringen. Starke Emotionen, wie ein tief empfundener Glaube scheinen dabei ein probater Katalysator zu sein.

Ein kleiner, offener Pavillon hoch über dem Fluss. Stockdunkle Nacht. Man schließt die Augen, es ist alles schwarz. Man öffnet sie und es ändert sich nichts. Das Rauschen des großen Flusses - Regentropfen - die Luft warm, feucht, schwül - die Geräusche, der Duft des fremden Waldes - Phantasien, Träume, Gefühle - was für ein Tag, was für eine Nacht.


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